Stimme des Volkes


Nuit Debout - Aufstehen für einen Wandel

Eine neue Bewegung hat Frankreich erfasst und ruft nach einem Wandel. Sie nennt sich Nuit debout - frei übersetzt: "Aufrecht durch die Nacht" - und entstand in den sozialen Medien als Protestaktion gegen die geplante Arbeitsrechtreform, die es Unternehmen leichter machen würde, Mitarbeiter zu entlassen.
Aber schon nach einer Woche weitete sie sich mit nächtlichen Demonstrationen, zu denen sich Menschen aus allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten auf öffentlichen Plätzen versammeln, auf mehr als 30 Städte aus. Diese neue Bürgerbewegung lässt sich möglicherweise mit der Occupy-Bewegung oder der Bewegung der Indignados in Spanien vergleichen.

Es begann am 31. März mit einem nächtlichen Sit-in in Paris, nachdem Studenten und Gewerkschaften gegen die von Präsident Hollande vorgeschlagenen Änderungen des Arbeitsrechts demonstriert hatten. Die Idee zu dieser Bewegung und ihrer radikalen Nachtaktion entstand aber schon einige Monate zuvor bei einem Treffen linksgerichteter Aktivisten in Paris. "Auf einer öffentlichen Sitzung im Februar mit 300 bis 400 Leuten haben wir uns gefragt, wie wir die Regierung wirklich aufschrecken könnten.
Die Idee war dann: Bei der nächsten großen Straßendemo gehen wir einfach nicht mehr nachhause", sagte Michael, 60, ein ehemaliger Paketzusteller. "Und das ist dann am 31. März bei der großen Arbeitsrecht-Demonstrationen auch passiert. Es hat in Strömen geregnet, aber trotzdem sind alle auf den Platz zurückgekommen. Um 21 Uhr hörte der Regen auf, und wir blieben sitzen. Auch am nächsten Tag sind wir wiedergekommen, und nachdem wir das jetzt jeden Abend machen, macht das der Regierung auch Angst, weil es sich nicht definieren lässt. Hier geschieht etwas, was ich in Frankreich bisher noch nicht gesehen habe - alle diese Leute versammeln sich hier jede Nacht auf eigene Initiative, reden und diskutieren über Ideen - zu Wohnungsbau und Bürgergeld bis zu Flüchtlingen, über alle Themen, die sie interessieren. Niemand hat ihnen das gesagt, keine Gewerkschaft hat dazu aufgerufen - sie kommen einfach aus eigenem Antrieb." Wenn in Paris die Nacht anbricht, sitzen Tausende im Schneidersitz auf den öffentlichen Plätzen der Stadt, reichen ein Mikrophon herum und halten Reden - über die Dominanz Googles und über Steuerflucht bis zur ungleichen Verteilung des Wohneigentums.

Die Debatten dauern oft bis in die Morgenstunden und weiten sich auf viele andere Probleme aus wie die Notstandsgesetze und die Polizeirazzien, die seit den Terroranschlägen im letzten Jahr durchgeführt werden. Inzwischen haben sich auch verschiedene Kommissionen gebildet, die über eine neue Verfassung, Gesellschaft, Arbeit diskutieren und wie man die Besetzung des Platzes mit permanenten Holzkonstruktionen Nacht für Nacht aufrecht erhalten kann. Auf Whiteboards werden die Diskussionen und Aktivitäten des Abends festgehalten: von Debatten über die Wirtschaft bis zum Medientraining für die Demonstranten. "Kein Hass, keine Waffen, keine Gewalt", heißt das Motto, wie es das "Aktionskomitee" formuliert hat. "Das hier sollte eine perfekte Mini-Gesellschaft sein", sagte ein Mitglied des Gärtnerkomitees zur Menge.

Ein Komitee für Dichtkunst wurde gegründet, das die Slogans der Bewegung dokumentieren und auch entwickeln will. "Jede Bewegung braucht ihre künstlerischen und literarischen Elemente", sagte der Dichter, der das vorgeschlagen hatte. "Generation Revolution" ist auf das Pflaster gekritzelt. Das Konzept hinter der Bewegung ist eine "Konvergenz der Aktionsziele" ohne einzelne Führer. Es gibt auf dem Platz keine Gewerkschaftsbanner oder Transparente bestimmter Gruppierungen, die, wie sonst üblich, Proteste zieren - eine Seltenheit in Frankreich. Kein Thema ist von der Agenda ausgeschlossen; soziale Probleme wie die Arbeitsgesetze, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Klimawandel, die Flüchtlingskrise, Rassismus und vieles mehr werden die Nacht über diskutiert. Cécile, 22, eine Pariser Jurastudentin, sagte auf der Generalversammlung am Donnerstagabend: "Ich bin mit dem Zustand, in dem sich die Gesellschaft heute befindet, nicht einverstanden. Die Politik fühlt sich für mich kaputt an. Diese Bewegung spricht mich an, weil hier Bürger aktiv werden. Ich komme aus der Vorlesung hierher, und ich habe fest vor, wiederzukommen. Ich hoffe, es geht weiter." (Quellen: theguardian.com, ibtimes.co.uk; libeation.fr; ein Share-International-Korrespondent, der an Nuit-Debout-Versammlungen teilnahm.)

"Die Arbeitsrechtreform war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte", sagt Mathieu, 35, der nach 10 Jahren in der Privatwirtschaft eine Umschulung zum Lehrer macht und auf dem Platz einen Revolutionschor improvisiert und organisiert hat. "Aber es geht nicht nur darum, es geht um viel mehr. Diese Regierung, die sich sozialistisch nennt, hat einige Dinge eingeführt, die mir nicht passen, aber die wirklichen Probleme, wie Arbeitslosigkeit, Klimawandel und eine Gesellschaft, die auf die Katastrophe zusteuert, geht sie nicht an."

Jocelyn, 26, eine ehemalige Medizinstudentin, die als Pressesprecherin der Bewegung fungiert, sagt: "Es gibt Parallelen zu Occupy und Indignados. Die Idee ist, dass jeder sagen kann, was er denkt. Die Leute haben es wirklich satt, und dieses Gefühl hat sich seit Jahren aufgebaut... Damit meine ich persönlich den verhängten Ausnahmezustand, die neuen Überwachungsgesetze, die geplanten Verfassungsänderungen und die Polizeirazzien."



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