Wiedergutmachung von zerbrochenem Leben


Interview mit Fania E. Davis von Jason Francis

Im kalifornischen Oakland wurde 2005 eine gemeinnützige Organisation für wiedergutmachende Gerechtigkeit oder Restaurative Justiz für jugendliche Straftäter gegründet (Restorative Justice for Oakland Youth - RJOY). RJOY arbeitet in Schulen und im Strafjustizsystem, um den Kreislauf von Gewalt, Inhaftierung und beschädigtem Leben zu durchbrechen, der durch den in Schulen und im Jugendstrafvollzug verfolgten, nur an Strafe orientierten Ansatz hervorgerufen wird. Fania E. Davis, eine Bürgerrechtsanwältin, ist Mitbegründerin und Leiterin von RJOY. Jason Francis interviewte sie für Share International.

Share International: Wie würden Sie den Ansatz beschreiben, den unser gegenwärtiges amerikanisches Strafjustizsystem beim Umgang mit Fehlverhalten verfolgt?
Fania Davis: Der gegenwärtige Ansatz wird gelegentlich als vergeltende Gerechtigkeit bezeichnet und bedeutet, dass unsere Reaktion auf einen angerichteten Schaden in einem weiteren Schaden, der Bestrafung besteht. Man kann also sagen, dass wir ein System haben, das Menschen schadet, die Menschen schaden, um zu zeigen, dass Menschen zu schaden falsch ist.

SI: Welche Wirkung übt dieser Ansatz auf das Leben von Menschen, die das Strafjustizsystem durchlaufen, und auf die Gesellschaft insgesamt aus?
FD: Die Wirkung ist sehr destruktiv. Wir wissen, dass Menschen, die Schaden erlitten haben, wiederum anderen Menschen Schaden zufügen. Unsere Kultur und unser Leben sind also von Schadenszufügungen geprägt. Wir können das heute überall beobachten. Natürlich ist es ein strafender Ansatz, seien es rassenbedingte Masseninhaftierungen, das Three-Strikes-Gesetz [das bedeutet, dass eine Person, die bereits zwei Mal wegen eines Vergehens verurteilt wurde, bei einer weiteren Verurteilung wegen einer Straftat zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wird], zunehmende Inhaftierungen von Frauen sowie das Auseinanderbrechen von Familien und Gemeinschaften aufgrund von Masseninhaftierungen.
Diese rein strafende Reaktion auf Fehlverhalten betrifft jeden Aspekt unseres Lebens. Ich beobachte das täglich bei meiner Arbeit mit Schülern: Schulen sehen immer mehr wie Gefängnisse aus - mit einer starken Polizeipräsenz, Metalldetektoren und Suchsonden. Dieser Ansatz hat sich verheerend auf das Leben der Menschen in unserem Land ausgewirkt, vor allem bei Farbigen. Wir beobachten das, was Wissenschaftler eine "Prisonierung" unserer Kultur nennen. Und es ist besonders auffällig in Schulen.

Ein holistischer Ansatz für die Justiz
SI: Wie würden Sie den Ansatz beschreiben, den Restaurative Justiz wählt?
FD: Restaurative Justiz wählt einen holistischen Ansatz. Statt zu fragen: "Welche Gesetze wurden gebrochen?", "Wer hat sie gebrochen?" und: "Welche Strafe ist fällig?", wie es das gegenwärtige System tut, fragt Restaurative Justiz: "Wem wurde Schaden zugefügt?", "Was sind die Bedürfnisse und Verpflichtungen der Personen, die von der Tat betroffen sind (Opfer und Täter)?" und: "Wie finden diese davon betroffenen Personen zusammen, um herauszufinden, wie der Schaden so weit wie möglich geheilt werden kann und die Bedürfnisse und Verpflichtungen angesprochen werden können?"
Es ist eine Justiz, die versucht, Verletzungen zu heilen und die durch ein Verbrechen oder anderes Fehlverhalten verursachte Beschädigung zwischenmenschlicher Beziehungen wiedergutzumachen. Sie versucht, mehr sozialen Frieden zu schaffen.

SI: Wo liegen die Wurzeln des Konzepts der Restaurativen Justiz?
FD: Ihre frühesten Wurzeln liegen in indigenen Formen von Konfliktbewältigung oder Gerichtsbarkeit. Man könnte auch sagen, dass die indigene Sichtweise, die zur Restaurativen Justiz führte, auf der Überzeugung beruht, dass wir alle miteinander und mit der Erde verbunden sind. Ubuntu ist ein Ausdruck für dieses afrikanische und indigene Grundverständnis. Es besagt im Wesentlichen: "Ich bin, weil wir sind, und wir sind, weil ich bin." Ich bin, der ich bin, aufgrund meiner Beziehungen. Dieser beziehungsbezogene Kern der Restaurativen Justiz entstammt direkt den Lehren und Erkenntnissen fast aller indigenen Kulturen.
Bei unserem Ansatz für eine Restaurative Justiz wenden wir die Methode der Friedenszirkel an (Peacemaking Circle). Dieser stammt von dem indigenen Volk der Tlingit Tagish in Kanada. Kay Pranis, eine führende Theoretikerin und Praktikerin der Friedenszirkel, hat sie uns vermittelt. Sie hat das von den Stammesältesten der Tlingit Tagish gelernt. Wir wissen, dass diese Zirkel oder Kreise in vielen indigenen Kulturen, nicht nur in Kanada, sondern auch in Afrika, Asien und Lateinamerika üblich sind.

Restaurative Justiz in Schulen
SI: Könnten Sie die Rolle der Friedenszirkel in der Restaurativen Justiz beschreiben?
FD: Friedenszirkel sind eine Methode, die wir hier in Oakland vor allem in Schulen anwenden, aber auch in anderen Umfeldern. Wir verwenden sie nicht bloß zur Konfliktlösung, nachdem ein Schaden entstanden ist, sondern auch proaktiv als ein Mittel, Gemeinschaft und Vertrauen aufzubauen und gemeinsame Werte zu entwickeln. In Schulen werden sie als eine Alternative zur Suspendierung oder zum Ausschluss wegen eines angerichteten Schadens benutzt. Das ist wirklich wichtig, weil die Forschung zeigt, dass es bei Schülern, die suspendiert werden, dreimal wahrscheinlicher ist, dass sie schon nach einer weiteren Suspendierung eingesperrt werden. [...]

Restaurative Justiz hinter Gittern
SI: Wie geht eine Wiedergutmachung vor sich, wenn jemand im Gefängnis ist?
FD: Gewöhnlich durchlaufen Personen, die einen Mord begangen haben, das normale Strafjustizverfahren, aber wenn sie verurteilt wurden und ihre Strafe absitzen, gibt es vielleicht das, was wir den Opfer-Täter-Dialog nennen, indem sich die Überlebenden, die Familienangehörigen, mit dem Mörder treffen. Das ist ein sehr schwieriger Prozess, wie Sie sich vorstellen können. Es gibt einen ausgebildeten Mediator, der zunächst mit beiden Seiten separat arbeitet, bevor er sie zusammenbringt. Dabei finden wirklich erstaunliche Heilungen statt. In vielen Fällen kommen die Familienangehörigen dem Mörder näher und unterstützen sogar seine Entlassung auf Bewährung.
Es gibt auch einen Opfer-Täter-Dialog, der anstelle der Inhaftierung möglich ist und dem Modell der Gemeinschaftskonferenzen für Jugendliche sehr ähnlich ist, das ich zuvor erwähnt habe. Übrigens hat das Modell der Gemeinschafts- oder Familienkonferenzen für Jugendliche in Neuseeland mehr oder weniger dazu geführt, dass alle geschlossenen Einrichtungen für Jugendliche abgeschafft wurden. Die Inhaftierung von Jugendlichen, außer bei Mord, wurde in Neuseeland durch eine Restaurative Justiz praktisch hinfällig. [...]

Weitere Informationen auf: rjoyoakland.org und livingjusticepress.org

Das gesamte Interview finden Sie in der Share-International-Magazinausgabe Mai 2016.



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